Abstieg vom Parnass

Der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl schildert die Schattenseiten der Künstlerexistenz in zwei bislang unpublizierten Erzählungen.

Von Magnus Wieland

Vor exakt hundert Jahren zog der im Glarnerischen Netstal geborene Ludwig Hohl nach Paris, um Schriftsteller zu werden. Er lässt die von schroffen Felswänden des Glärnisch und des Tödi geprägte Heimat seiner Kindheit hinter sich und stürzt sich in die pulsierende Metropole. Es sind die Roaring Twenties

Die seltsame Wendung / Die vorletzte Station
Die einzig erhaltenen Manuskripte zu «Die seltsame Wendung» und «Die vorletzte Station» aus Ludwig Hohls Nachlass (Foto: NB, Simon Schmid)

Doch von der literarischen Speerspitze, die sich zur selben Zeit in Paris einfindet, von Hemingway und dem Kreis um Gertrude Stein, von Joseph Roth und Walter Benjamin, geschweige denn von den Surrealisten, nimmt er kaum Notiz. Auch seinen Landsleuten Blaise Cendrars und Alberto Giacometti begegnet er nicht. Stattdessen tummelt er sich nächtelang in den einschlägigen Kneipen des Montparnasse mit allerlei zwielichtigen Gestalten, Trunkenbolden und verkommenen Künstlerfiguren, die sein damaliger Freund, der polnisch-jiddische Schriftsteller Oser Warszawski, in seinen Aufzeichnungen «L’Arrière-Montparnasse» verewigt hat. Auch Hohl verarbeitet seine Erlebnisse literarisch – in einer Novelle, die zu Lebzeiten nie erschienen ist. Erst kürzlich kam sie aus dem Nachlass des Autors im Schweizerischen Literaturarchiv heraus und wurde bereits als grosse Entdeckung gefeiert.

«Die seltsame Wendung» schildert in einer rohen, hypnotischen Erzählweise – hier scheint der Surrealismus immerhin stilistisch seinen Einfluss zu behaupten – das Trinkerschicksal eines Montparnasse-Künstlers, hinter dem unverkennbar auch Hohls eigene Tragik erkennbar wird. Die sechs durchzechten Jahre in der Pariser Bohème gehen an dem Jungautor nicht spurlos vorüber: 1930 wird er stark alkoholisiert und mit einer Medikamentenüberdosis in das Pariser Hôpital Henri-Rousselle eingeliefert. Zwecks Regenerierung, aber auch um einer aufgrund seiner Eskapaden gescheiterten Beziehung zu entfliehen, zieht sich Hohl kurze Zeit zurück in die Berge, nach Dingy, einem Dörfchen in den Savoyen unweit von Annecy. Doch dort holt ihn die jüngste Vergangenheit schneller ein, als ihm lieb ist. Bereits am Tag seiner Ankunft trifft er auf Georges Mergault, einer ehemaligen Bekanntschaft aus dem Montparnasse. Ein heruntergekommener Freak, der sein Lungenleiden in der Höhenluft kurieren will. 

Auch diese Begegnung hat Hohl in dem unlängst aus dem Nachlass veröffentlichten Text «Die vorletzte Station» festgehalten und damit ein Stück unbekannte Literaturgeschichte geschrieben. Denn wenig weiss man bislang über diesen Georges Mergault, der vor dem Ersten Weltkrieg eine durchaus erfolgreiche Karriere als Rugby-Spieler startete, nach seiner Desertation jedoch vom Kriegsgericht verurteilt wurde und mittellos im Montparnasse strandete, wo er sich den Ruf eines genialen Trunkenbolds erwarb und sein Dasein als Möchtegern-Schriftsteller fristete. «Die vorletzte Station» handelt von den letzten Monaten vor Mergaults Tod, die Hohl mit ihm in der Pension Martinod in Dingy verbrachte. Mergault erscheint hier als saufendes und schwafelndes Scheusal, das den Ich-Erzähler dennoch in den Bann zieht, wohl weil Hohl in ihm eine Art Alter Ego erkennt, zumal sein Schicksal, wenngleich weniger tragisch, doch ein ähnliches war. Auch Hohl war im Montparnasse gescheitert: Seinen Plan einer grossen Milieustudie musste er aufgeben, stattdessen hat er in Aufzeichnungen die prekären Schattenseiten einer Aussenseiterexistenz dokumentiert. Daraus resultiert keine hohe Literatur, das war auch nicht Hohls Anspruch, sondern ein eindringliches, weitgehend unverfälschtes und wirklichkeitsnahes Zeugnis einer versunkenen Epoche.

Ludwig Hohl (1904–1980) gilt als ewiger Geheimtipp der Schweizer Literatur. Sein Leben lang verbrachte er als freischaffender Schriftsteller am Rande des Existenzminimums, zunächst in Paris, dann in Den Haag und schliesslich in seiner legendären Kellerwohnung in Genf. Erst in den letzten Lebensjahren erreichte er mit seinem Notizen-Werk und der Erzählung «Bergfahrt» öffentliche Aufmerksamkeit.

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Letzte Änderung 16.04.2024

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